Über das Buch
Ein fiktiver Autor hat sich vorgenommen, nicht das Leben eines alten Mannes zu beschreiben sondern dessen Wesen.
"Der Mann selbst hat es mir nahegelegt. Wahrscheinlich werde ich scheitern, weil es unmöglich ist. Aber einen Versuch ist es wert. Ich beschreibe diesen Mann, indem ich sein Wesen zeichne. Befrage Freunde, Bekannte, Fachleute; ihre Antworten sollen den Kern herausarbeiten. Einige Zeilen, die mir der Mann geschrieben hat, vervollständigen das Bild. Der Mann ist nicht wichtig, noch weniger das Bild, das ich von ihm zeichne. Wichtig ist, was es besagt."
In Gesprächen mit Freunden, Kollegen des Mannes, sowie mit Fachleuten erfährt er mehr und mehr über dessen Wesen:
Nicht weit von der Piazza Navona befindet sich das Caffè de la Pace im Palazzo Gambirasi. Da niemand wusste, wie lange diese Institution noch bestehen würde, traf ich mit dem Freund des Mannes eben dort zusammen.
„Man kann das nicht sagen. Man kann beschreiben, was einer tut, wie er sich verhält, wie er einem erscheint, aber nicht, wer er ist. Ich halte Ihren Vorsatz, meinen Freund derart ‚substanziell‘ zu schildern, für unausführbar, mir jedenfalls wäre es nicht möglich.“
Ich wollte mir mein Vorhaben nicht ausreden lassen, baute dem Freund des Mannes eine Brücke: „So bleiben Sie doch dabei, wie er Ihnen erschien!“
„Nun, Sie wissen vielleicht, er hat mit seiner ersten Frau zusammen ein Kind angenommen, kein behindertes Kind, aber schwer krank, die Aussichten fraglich. Würde das Kind überleben, dann womöglich recht eingeschränkt, es hat aber nicht allzu lange gelebt. Nun frage ich Sie: Was sagt das darüber aus, wer er war? Ein vorbildlicher Vater? Der aber seine beiden Kinder und ihre Mutter wegen einer anderen Frau hat sitzen lassen? Und was sagt wiederum dieses darüber aus, wer er war – ein hingebungsvoll Liebender? Oder ein skrupelloser Egoist? Oder: Er ist weit gereist, keine gewöhnlichen Touristenreisen, mehrfach Lateinamerika, wiederholt Asien, Ostasien natürlich auch, seine zweite Frau war ja Koreanerin. Ein Globetrotter also? Aber während der Reisen hatte er fortwährend Heimweh, so hat er es mir einmal eingestanden, das begann schon im startenden Flugzeug – was bedeutet nun das wieder: Abenteurer oder Spießbürger? Verstehen Sie? Aus dem Anschein ergibt sich kein Sein, schon gar nicht eines, das man definieren, ins Heft schreiben und im Ranzen nach Hause tragen kann!“
„Warum war er dann Ihr Freund“, fragte ich, „bezieht sich Freundschaft nicht immer auf das, was einer ist, so dass man, was er tut, im Grunde für gleichgültig hält, wenigstens aber nicht missbilligt, so wenig wie Sie, im Unterschied zu den meisten anderen seiner Freunde und Bekannten, selbst die Hinwendung zu seiner zweiten Frau missbilligt haben?“
„Sehr wohl habe ich das ‚missbilligt‘, wie Sie es nennen. Nur sah ich es nicht als meine Aufgabe an, ihm das vorzuhalten. Er wusste es auch so.“
„Dann aber haben Sie die Freundschaft weniger wegen dem aufrechterhalten, was er tat, als wegen dem, was er war“, hielt ich dem Freund vor.
„Jetzt haben Sie mich – glauben Sie …
Was er auf diese Weise über den alten Mann erfährt, bedenkt er in kurzen Reflektionen:
"Der Mann war also nicht von nur einem Sog durchzogen, sondern von mehreren, die sich gebündelt haben mochten, woraus eine Strömung resultierte, der er noch weniger entgegenzusetzen hatte als der Anziehung der koreanischen Frau allein.
Zu dieser Einsicht kam er später selbst. Es wurde eine der Grundfesten seines japanischen Hauses, als ihm aufging, wie wenig er sein Leben gestaltet, sondern dieses ihn gezwungen, und er es nur erlitten hatte.
Der Abhang war vereist gewesen, auf den er mit der Geburt seinen Fuß gesetzt hatte, seitdem glitt er hinab, höchstens gelang es dann und wann, mit der Wucht widerständlicher Bewegungen hier und da eine winzige Richtungsänderung zu bewirken, die aber an dem Sturz selbst nichts ändern konnte."
Und immer wieder begleitet er ihn auf seinen Besuchen in dem japanischen Teehaus:
Es wäre gleich, woher er käme. Aber er würde sein japanisches Haus aufsuchen, jeden Tag. Den Weg hinab. Erst sieht er nur das Dach. Endlich, nach der letzten Wegbiegung, das Haus. Der Bambuszaun, die Tür, die er öffnet, um den steinbelegten Vorplatz zu betreten. Sich im Wasserbecken die Hände reinigen. Den Mund spülen. Über den Trittstein zum Haus hinaufsteigen. Die Schuhe zurückstellen. Sich niederbeugend durch die niedrige Tür hinein, durch seinen „Kriecheingang“, das Haus mit erzwungener Verbeugung betretend, die ihn Demut lehrt. Demut – was für ein Wort, längst aus der Bedeutung geflossen, ein Verlust! Demut – etwa vor dem Haus? Ja, auch vor dem Haus. Indem er mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken sein Haus betreten muss, wird er erniedrigt – noch ein verfallenes Wort! So erinnert ihn sein Haus daran, nicht wichtig zu sein, keinen Wert darzustellen. Es hat auch nicht auf ihn gewartet. Will ihn nicht beherbergen. Nicht einmal schützen. Es hat nichts Besonderes mit ihm vor. Nur ihn beim Betreten daran gemahnen: Er ist nichts Ausgesuchtes.
Bis hin zum letzten Besuch des Teehauses …